Interview mit Professor Christfried Böttrich

Christfried Böttrich, geb. 1959, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald. Böttrich erhielt 2001 die außerplanmäßige Professur in Leipzig, die er bis zum Folgejahr innehatte. 2002 vertrat er einen Lehrstuhl an der Universität Marburg und 2002/03 an der Universität Jena. Seit Oktober 2003 lehrt er an der Universität Greifswald als ordentlicher Professor für Neues Testament. An der Fakultät hatte er von 2006 bis 2008 sowie 2009 bis 2010 das Amt des Dekans inne.

M.R. Professor Böttrich, Sie haben mehrere Artikel und Monographien über die Person Konstantin Tischendorf, sowie über seine Entdeckung des Codex Sinaiticus verfasst. Wie kam es bei Ihnen zu diesem starken Interesse daran? Seit wann begannen Sie Ihren Fokus auf den Codex und auf Tischendorf zu richten?

Ch.B. Als Theologiestudent in Leipzig habe ich im neutestamentlichen Proseminar zum ersten Mal vom Codex Sinaiticus gehört. Ein Teil dieser kostbaren Handschrift liegt ja in der Leipziger Universitätsbibliothek. Und Tischendorf hat sein ganzes Leben in Leipzig verbracht. Damit war mein Interesse schon früh geweckt. Nun beherbergt die Leipziger Bibliothek aber nicht nur Handschriften, die Tischendorf aus dem Orient mitbrachte, sondern auch seinen gesamten wissenschaftlichen Nachlass – mit Manuskripten, Dokumenten, Skizzen, Entwürfen und einer umfangreichen Sammlung von Briefen. Mit diesem Nachlass begann meine ganz persönliche Entdeckungsgeschichte. Damals war ich bereits Assistent an der Universität. Ich vertiefte mich in alle diese faszinierenden Materialien, studierte Briefe und Dokumente und erkundete die Leipziger Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert. Aus dieser Beschäftigung, die ich meist in den Semesterferien betrieben habe, entstanden dann verschiedene Publikationen – zuerst eine vollständige Bibliographie der Schriften Tischendorfs, dann ein Lesebuch mit unveröffentlichten Briefen und Dokumenten, schließlich eine Reihe von Artikeln und ein zusammenfassendes Buch. Dabei ging es mir vor allem um die wechselvolle Geschichte des Codex Sinaiticus, der heute an vier verschiedenen Orten aufbewahrt wird. Der Streit, wem diese Handschrift nun letztlich gehört, wurde lange Zeit sehr emotional geführt. Mein Interesse bestand darin, vor allem die näheren Umstände ihrer Entdeckung und Überführung nach Europa vor 150 aus den Quellen zu ermitteln.

Während ich an meinem Buch „Kodeks Synajski. Biografia” arbeitete, durfte ich, dank Ihrem großen Entgegenkommen, Einblick in mehrere Ihrer Materialien und Dokumente bekommen. Ist es wahr, dass Sie einige der Nachkommen von Konstantin Tischendorf  konnten persönlich kennen lernen? Wenn ja, wo leben diese? Sind sie stolz auf ihren so bedeutsamen Vorfahren? Sind Sie darüber hinaus mit weiteren Details aus dem Leben der Familie von Konstantin vertraut?

Konstantin von Tischendorf und seine Frau Angelika hatten insgesamt acht Kinder (3 Söhne und 5 Töchter), deren Nachkommen heute weit verstreut an verschiedenen Orten leben. Eine Enkelin Tischendorfs, Hildegard Behrend, hat 1952 ein populäres kleines Buch über ihren Großvater und über die ganze Codexgeschichte geschrieben; von ihrer Hand stammt auch ein kleines Theaterstück über ihren Großvater und eine Dia-Serie mit Bildern über den Codex Sinaiticus und seine Entdeckung. In diesem Zweig der Familie gab es noch eine dicke Mappe mit Briefen, die Konstantin Tischendorf von unterwegs an seine Frau geschrieben hat. Diese Briefe durfte ich benutzen. Sie sind eine ganz wertvolle Quelle, aus der man sehr viel über das Leben einer deutschen Professorenfamilie in der Mitte des 19. Jahrhunderts lernen kann – und natürlich auch über den Codex selbst! Unter diesen Briefen befinden sich zum Beispiel einige Zeilen, die Tischendorf im Februar 1859 unmittelbar nach der Entdeckung der restlichen 346 Blätter des Codex geschrieben hat und die ganz von der Begeisterung über den kaum noch erhofften Fundes durchdrungen sind. Zu einigen Familienmitgliedern habe ich Kontakt. Anfang des Jahres 2015 hat die Stadt Lengenfeld (in Sachsen) mit einer Festwoche den 200. Geburtstages ihres großen Sohnes Konstantin Tischendorf gefeiert.

Seit 2009 ist der gesamte Codex Sinaiticus in digitaler Form auf der Website (www.codexsinaiticus.org) zu finden. Sie wirkten bei dem Prozess der Digitalisierung auf dem Gebiet „Historische Forschung” mit. Waren Sie von Anfang an beim „Codex Sinaiticus-Projekt” dabei? Was war speziell Ihre Aufgabe? Haben sich die Beteiligten miteinander getroffen oder bestand die Arbeitsmethode eher im Erforschen der Internetseiten?

Die Digitalisierung des Codex Sinaiticus (2005-2009) ist eines der faszinierendsten Projekte, das es in den letzten Jahren auf diesem Gebiet gegeben hat. Zum einen kann der Codex auf diese Weise weltweit und zu jeder Zeit von allen Menschen benutzt werden, die einen PC besitzen. Die Qualität der gescannten Bilder ist hervorragend – und gleichzeitig gibt es eine Fülle von Zusatzinformationen! Zum anderen bietet dieses Projekt die Voraussetzung dafür, den Streit um die Eigentumsfrage zu überwinden. Virtuell sind die vier zerstreuten Teile zunächst wieder vereinigt. Auch die Väter des Katharinenklosters auf dem Sinai haben sich an diesem Projekt mit großem Engagement beteiligt. Meine Mitarbeit begann erst, als das Projekt schon gestartet war. Sie bestand darin, die “Entdeckungsgeschichte” noch einmal neu zu recherchieren. Zu den Leipziger Quellen kamen jetzt ganz neue Dokumente aus Russland, London und vom Sinai hinzu, die viele bis dahin unbekannte Einzelheiten klären konnten. Meine Darstellung der Geschichte war Teil des Projektes und lag allen vier beteiligten Institutionen (British Library London, Universitätsbibliothek Leipzig, Öffentliche Bibliothek St. Petersburg, Bibliothek des Katharinenklosters auf dem Sinai) auf englisch, deutsch, russisch und griechisch vor. Zur Abschlusskonferenz 2009 in London wurde auch über die Entdeckungsgeschichte intensiv diskutiert (der Konferenzband Codex Sinaiticus. New Perspectives on the Ancient Biblical Manuscript erschien 2015 in London). Ich habe sehr viel bei dieser Arbeit gelernt. Zusammenfassend kann man heute sagen: Tischendorf war als europäischer Gelehrter natürlich ein Kind seiner Zeit; die Umstände des Schenkungsaktes 1869 waren sehr turbulent und schwierig; die Schenkung der Handschrift durch das Kloster an Zar Alexander II. ist jedoch rechtlich korrekt verlaufen.

Ich erinnere mich an unsere Begegnung bei der Internationalen Bibelkonferenz in Stettin im Jahr 2011. Diese Konferenz beschäftigte sich mit der Theologie des heiligen Paulus. Das ist ein Hinweis, dass Ihr Forschungsgebiet über die Tischendorfs Studien hinausgeht. Woran arbeiten Sie sonst?

Mein Arbeitsgebiet ist die Exegese des Neuen Testamentes. Hier beschäftigt mich ganz besonders das Lukasevangelium, zu dem ich gerade einen Kommentar schreibe. In der Lehre bringe ich den Studenten alle Schriften und Themen des Neuen Testamentes in ihrer ganzen Breite nahe. Gemeinsam mit einem Kollegen veröffentliche ich eine Taschenbuchreihe über “Biblische Gestalten”, die für ein breites Publikum bestimmt ist. Ähnlich konzipiert ist eine Taschenbuchreihe über die gemeinsamen Überlieferungen “… in Judentum, Christentum und Islam”. Einer meiner besonderen Forschungsschwerpunkte ist jedoch die Literatur des antiken Judentums bzw. der “Apokryphen und Pseudepigraphen”. Hier habe ich kommentierte Übersetzungen zum “Zweiten Henochbuch”, zu der apokryphen “Geschichte Melchisedeks” und zu der apokryphen “Leiter Jakobs” veröffentlicht. Wenn wir das Neue Testament verstehen wollen, müssen wir es im Kontext seiner zeitgenössischen Literatur bzw. des “Corpus Judaeo-Hellenisticum” lesen. Das ist auch mein Ansatz für die Kommentierung des Lukasevangeliums.

Ich habe gehört, dass Sie in diesen Monaten ein Symposium durchführen, das dem Werk von Prof. Ernst Lohmeyer (1890-1946) gewidmet ist. Lohmeyer war ein Bibelwissenschaftler, der von 1920 bis 1935 als Nachfolger des berühmten Rudolf Bultmann an der Universität Breslau (damals Breslau) gelehrt hat. Können Sie uns erklären, warum dieses Symposium in Greifswald stattfindet? Was ist die Verbindung zwischen Lohmeyer und Ernst-Moritz-Arndt-Universität?

Ernst Lohmeyer war einer der bedeutendsten Bibelwissenschaftler im 20. Jahrhundert. 1935 wurde er von Breslau nach Greifswald strafversetzt, weil er sich für seinen bedrängten jüdischen Kollegen Ernst Joseph Cohn eingesetzt hatte. Nach dem Krieg wurde er 1945 als neuer Rektor in Greifswald mit dem Wiederaufbau der Universität betraut. Den neuen politischen Machthabern war er jedoch ebenso im Weg. Im Februar 1946 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst  NKWD verhaftet und ein halbes Jahr später erschossen. Erst 1996, nach der Wende, erfolgte eine vollständige Rehabilitierung durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation.  Seit 2000 trägt unser Fakultätsgebäude in Greifswald den Namen “Ernst-Lohmeyer-Haus”. Mit dem Symposium am 24. Oktober wollen wir des 70. Todestages von Ernst Lohmeyer gedenken. Dabei geht es vor allem um die Würdigung seines wissenschaftlichen Werkes.

Welchen Beitrag brachte Lohmeyer zu biblischen Studien ein?

Lohmeyer hatte ein feines Gespür für poetische und strukturelle Besonderheiten der biblischen Texte. Lange bevor die sozialgeschichtliche Forschung entstand, schrieb er eine kleine Abhandlung über “Soziale Fragen im Urchristentum” (1921). In seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes (1926) arbeitete er die Bedeutung der Sieben-Zahl als entscheidendes Strukturelement heraus und legte parallel eine Übersetzung in gebundener, poetischer Diktion vor. Als einer der ersten erkannte er in Phil 2,6-11 einen “ChristusPsalm” und interpretierte diesen Text als ein Stück urchristlicher Abendmahlsliturgie (1928). Mit seinem Buch über “Galiläa und Jerusalem” (1936) nahm er Gedanken vorweg, die viel später  unter dem Stichwort “Entwicklungslinien im Urchristentum” diskutiert wurden; sein Kommentar zum Markusevangelium (1937) führte diesen Ansatz aus. In der Auslegung des Vaterunsers (1946) liegt kurz vor seinem gewaltsamen Ende die Summe seiner exegetisch-theologischen Arbeit vor. In die “Entmythologisierungsdebatte”, die in den 50er und 60er Jahren ihren Höhepunkt erlebte, konnte er seine Stimme dann nicht mehr einbringen. In Greifswald bemühe ich mich darum, sein Erbe in Erinnerung zu halten.

Sie sind Professor für Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Wie beurteilen Sie den akademischen Stand der Theologie in Deutschland? In Polen sinkt jedes Jahr die Zahl der Theologiestudenten. Wie ist es in Deutschland?

Die theologische Ausbildung findet in Deutschland hauptsächlich nicht in kirchlichen Seminaren, sondern im Kontext staatlicher Universitäten statt. Die Theologischen Fakultäten sind primär Teil des allgemeinen akademischen Systems. Das hat den Vorteil, dass sie in einem engen Austausch mit allen anderen Wissenschaften stehen. Allerdings sind sie damit auch den Sparzwängen ausgesetzt, von denen alle Universitäten bedroht sind. Die Fakultät in Greifswald ist eine der kleineren, liegt jedoch deutschlandweit im oberen Mittelfeld. Bis 2012 hatten wir einen enormen Zuwachs an Studenten; inzwischen ist die Zahl wieder etwas zurückgegangen und hat sich bei einer guten Auslastung eingependelt. Ungefähr ein Drittel studiert für das Pfarramt in der Kirche, etwa zwei Drittel studieren für das Lehramt in der Schule.

Wie Sie es sicherlich wissen, ist der Katholizismus die wichtigste christliche Konfession in Polen. In Ihrem Land ist es anders? Führen Protestanten (von der evangelischen Seite) und Katholiken gemeinsame Studien an der Theologischen Fakultät in Greifswald?

Greifswald hat seit der Reformationszeit traditionell eine protestantische Theologische Fakultät. Die katholische Gemeinde befindet sich in der Stadt und in der Region in der Minderheit. Dennoch ist es eine gute Tradition, dass wir unsere Semestergottesdienste an der Universität immer als ökumenische Gottesdienste feiern. Die Evangelische und die Katholische Studentengemeinde arbeiten eng zusammen. Wer jedoch ganz direkt katholische Theologie studieren will, kann das nicht in Greifswald tun. Katholische und Evangelische Theologie haben ein unterschiedliches curriculum mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten. Um katholische Theologie zu studieren, besteht im Osten Deutschlands nur eine Möglichkeit – nämlich an der Universität in Erfurt. Im Westen Deutschlands gibt es katholische Fakultäten an vielen Orten. In manchen Universitäten wie in Frankfurt, Tübingen und anderswo gibt es auch eine evangelische und eine katholische Fakultät ganz direkt nebeneinander. Zu wissenschaftlichen Tagungen oder Symposien sowie bei konkreten Projekten gerade in den exegetischen Fächern ist die Zusammenarbeit über die Konfessionsgrenzen hinaus längst schon Standard geworden.

Sie führen das Leben eines Ehegatten und Vaters von fünf Kindern. In Polen sind die meisten Bibelwissenschaftler katholische Priester, Sie hingegen kommen aus dem normalen Familienleben. Ist es schwierig, Ihre wissenschaftlichen, pastoralen und familiären Aktivitäten gleichzeitig fortzusetzen?

Ich bin in einem lutherischen Pfarrhaus mit noch fünf Geschwistern aufgewachsen. Als Kinder waren wir dadurch besonders intensiv und auf ganz natürliche Weise in das Gemeindeleben eingebunden und erlebten die pastorale Arbeit des Vaters ganz aus der Nähe. Deshalb war mir Balance zwischen Arbeit und Familie (als Chance und als Problem) von klein auf vertraut. Als Theologiestudent habe ich zunächst das Pfarramt angestrebt und bin auch als evangelischer Pfarrer ordiniert worden. Diese Aufgabe habe ich gemeinsam mit meiner Frau in Angriff genommen. In der Gemeindearbeit war ich jedoch nur kurz. Die akademische Tätigkeit an der Universität und die weitere Qualifizierung haben meine Zeit später vollständig ausgefüllt. Dabei stellte sich die Frage der Balance noch einmal ganz neu. Unsere Kinder sind uns in dieser Zeit, in der man viel Arbeitsdisziplin braucht, eine große Bereicherung gewesen. Sie haben dafür gesorgt, dass neben der Arbeit auch das Leben zu seinem Recht kommt. Im Blick auf meine akademische Arbeit erweist sich die Familie als die erste und wichtigste Kritikerin. Die Kinder sagen mir unumwunden, wenn ich zu abstrakt denke und spreche. Das ist ein gutes Korrektiv. Die Spannung zwischen Beruf und Familie bleibt freilich immer bestehen – und das ist ganz schlicht eine Frage der Zeiteinteilung. Ich hoffe, dass wir uns gegenseitig weiter bereichern und unterstützen. Denn das Leben braucht Ziele und Projekte – und es braucht Freiraum und Freizeiten.

Vielen Dank für das Gespräch.